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Sinti und Roma in Europa/Deutschland: wie lange Krieg?

In den Neunziger-Jahren wurde mit dem so genannten Asylkompromiss das Grundrecht auf Asyl in Deutschland faktisch abgeschafft. Damals nahm man die zunehmenden Asylanträge von Roma aus dem Kosovo zum Vorwand. Auf Bundes- und Europaebene wurden seither eine ganze Reihe von Restriktionen eingeführt. Dessen ungeachtet, hat die Europäische Kommission in ihren Berichten und Mitteilungen immer wieder auf die fortdauernde Diskriminierung der Roma in Europa hingewiesen. Soll das nur von dem kalten Krieg ablenken, der gegen Roma in den EU-Mitgliedsländern geführt wird, auch gegen Sinti in Deutschland?

Bundesinnenminister Friedrich unterstellt Menschen aus Serbien oder Mazedonien kollektiven Asylmissbrauch. Dabei verschweigt er ebenso wie andere Bundespolitiker (auch von der SPD), dass die Roma in den Balkanländern systematisch am Zugang zu den vier Kernbereichen des Bürgerrechts, Bildung, Ausbildung, Arbeit und Gesundheit, gehindert werden. Auch menschenwürdige Wohnungen stehen ihnen kaum zur Verfügung, vielmehr werden sie durch gesellschaftliche Ausgrenzung und staatliche Maßnahmen in die Slums gedrängt. Dort wiederum fallen sie regelmäßig behördlichen Zwangsräumungen zum Opfer, ein veritabler Teufelskreis von Köpenickscher Qualität.

Organisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International oder Pro Asyl oder die Flüchtlingsräte in deutschen Bundesländern und Großstädten prangern aber nicht nur anhaltende Benachteiligung und Menschenrechtsverletzungen gegenüber den verschiedenen Roma-Volksgruppen auf dem Balkan an, sondern auch in westlichen EU-Ländern und gegenüber den deutschen Sinti. Strukturelle Diskriminierung und weitestgehender Ausschluss von sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe, politischen Rechten und vor allem Bildung und Berufsausbildung sind auch hierzulande feste Bestandteile der Realität, in der die Sinti leben.

Das Ausmaß der historischen Kontinuität des Antiziganismus ist erschreckend, während dessen die Lippenbekenntnisse offizieller Repräsentanten der Bundesrepublik durch die menschenleeren Flure der Solidargemeinschaft hallen. Fast genau 70 Jahre nach dem Auschwitz-Erlass Heinrich Himmlers, der die endgültige Vernichtung der bis dahin noch überlebenden Sinti und Roma einläutete, wurde in Anwesenheit von Bundespräsident Gauck und  Bundeskanzlerin Merkel das zentrale Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin eingeweiht. Den Kontrapunkt lieferte der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der sich wenige Tage später in seinem Bericht über Deutschland angesichts der fortdauernden Diskriminierung der Sinti und Roma in Bezug auf die existenziellen Lebensbedürfnisse besorgt äußerte.

Wie lange wird die antiziganistische Kampagne von europäisch/deutschen Dimensionen noch weiter gehen? Und wie weit wird sie gehen? Schon kommt es in den osteuropäischen Ländern zu gewalttätigen Angriffen gegen die Roma, die an Pogrome erinnern. Aus Frankreich und Belgien werden (noch) vereinzelte Aufrufe zum Rassenhass und zur Ermordung von Roma gemeldet. Wann setzt diese Entwicklung auch gegen die Sinti in Deutschland ein?

Anlässlich der Einweihung des zentralen Mahnmals in Berlin wies Dieter Graumann für den Zentralrat der Juden in Deutschland darauf hin, wie nahe sich Juden und Sinti stehen, seit sie als Opfer des Holocaust eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Shoah und Porrajmos sind zwei Seiten der gleichen schlechten Münze. Juden und Sinti in Deutschland müssen sich solidarisieren. Und vor allem die Sinti sollten stärker als bisher diejenigen Möglichkeiten zur politischen Partizipation und gesellschaftlichen Teilhabe, die bereits bestehen, nutzen und ihre Rechte aktiv einfordern und verteidigen. Auch die Frage der Einigkeit unter den verschiedenen Gruppen von Sinti, ebenso die Frage der Einigkeit mit Jenischen und anderen Randgruppen muss neu formuliert werden, um Spaltungen zu beseitigen und an Stärke zuzulegen. Einigkeit in der Abwehr des Antiziganismus heißt nicht Aufgabe der Identität – sie ist lediglich eine Frage des solidarischen Handelns.